- Nemecký jazyk
Vom Alltag im Schatten des Krieges
Autor: Christoph Brumme
Christoph Brumme zeichnet seine Erlebnisse aus dem Ukraine-Krieg auf: von Januar bis April 2022.
Leseprobe:
Poltawa, Montag, 07.03.2022 Gestern konnte ich dabei helfen, dringend benötigte Medikamente aus Deutschland
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Christoph Brumme zeichnet seine Erlebnisse aus dem Ukraine-Krieg auf: von Januar bis April 2022.
Leseprobe:
Poltawa, Montag, 07.03.2022 Gestern konnte ich dabei helfen, dringend benötigte Medikamente aus Deutschland
hierher zu bringen. Das Wichtigste sind immer noch Kompressen, um verletzte Arme und Beine abzubinden. Aber man zeigt jetzt auch in Lehrvideos, wie man sich Stoff behelfen kann. Hier ist es im Moment ruhig, Schnee ist gefallen, der Winter ist zurück, Frostgrade von minus zehn wurden vorausgesagt für Donnerstag. Nachts und morgens war Luftalarm. Den Aslarm in der Nacht habe ich aber nicht gehört, weil geschlafen. Aber ein bisschen Angst macht mir der Sirenenton
immer wieder. Poltawa wurde vom russischen Verteidigungsministerium jetzt als besonders gefährlicher Ort genannt, gefährlich für Russland. Wir sollen hier nämlich angeblich biologische Waffen herstellen, die Russlands Sicherheit gefährden. Oh je, ich habe letzte Woche in einem Interview richtig geweint, und man hört das. Wie peinlich. Mal aufzuschluchzen, gut, aber richtig weinen? Gott, bin ich so eine Memme geworden?
Heute nur noch peinlich, dabei ist die Meldung erst drei Wochen alt:
"Vor dem Besuch von Bundeskanzler Scholz in Kiew hat der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich die russischen Sicherheitsbedenken auch auf "große Fehler" der US-Regierung unter dem damaligen Präsidenten George W. Bush zurückgeführt. Er nannte dabei neben der "Invasion im Irak" namentlich "Verwerfungen hier in Europa" und den "Abschied von Rüstungskontrolle".
Deutsche Welle
Jetzt berichten auch ukrainischen Medien über die Fake-Behauptung der Russen, hier in Poltawa würden in einem geheimen Biolabor die Bestände gefährlicher Krankheitserreger jetzt schnell beseitigt werden, darunter Pest- und Cholera-Erreger, angeblich zur Entwicklung biologischer Kampfstoffe, die natürlich irgendwann gegen Russland eingesetzt werden sollen. Also ein Grund, Poltawa zu bechießen? Vor vier Stunden wurde Luftalarm ausgelöst und seitdem nicht aufgehoben. Nein, vor drei Stunden. Die Zeit im Bunker kommt einem so lang vor. Wir sitzen im Bunker und reden über Geld. Mein Nachbar will wissen, ob die Deutschen den Ukrainern in den letzten acht Jahren geholfen haben, seit dem Beginn des Krieges.
Ich sage gleich die Wahrheit: "Jeder Deutsche hat in dieser Zeit den Ukrainern jedes Jahr zwei bis drei Tassen Kaffee spendiert." Ich erkläre ihm meine Milchmädchenrechnung. Deutschland hat in dieser Zeit die Ukraine meines Wissens mit etwa vier Milliarden Euro unterstützt. Einschließlich der Gelder, die über die EU geflossen sind, aber ohne Kredite, die ja zurückgezahlt werden müssen. Vier Milliarden Euro in acht Jahren verteilt auf 80 Millionen Menschen macht sechs Euro fünfundzwanzig Cent pro Jahr.
"Na, und?", sagt meine Nachbarin, die Ikonenmalerin Lena. "Müssen die Deutschen uns etwas geben? Sie müssen doch nicht helfen. Wir geben ihnen ja auch nichts. Jeder gibt, was er kann. Drei Tassen Kaffee pro Jahr, das ist doch nicht schlecht." Anm.: https://bit.ly/3MtGJU4 Historisches Dokument: Der Fahrschein im Bus heute, mit dem Aufdruck "Das Leben wird den Tod überwinden, das Licht die Dunkelheit."
Poltawa, Sonntag, 06.03.2022 Der deutsche Freund in Dnipro ist enttäuscht. Er hat sich bei den Verteidigungskräften eingeschrieben, aber man hat ihm keine Waffe gegeben. Nun will er doch schnell Richtung Westen fahren. Er prognostiziert, die Russen werden eine Atombombe in der Ukraine abwerfen. Darüber wird tatsächlich derzeit im russischen Staatsfernsehen in einer der wichtigsten Propaganda-Shows ausgiebig diskutiert, das Publikum wird vorbereitet. Wahrscheinlich wird man sich auf die Begründung einigen, dies sei "aus taktischen Gründen" notwendig. Und nun soll das russische Verteidigungsministerium einen angeblichen Befehl des ukrainischen Gesundheitsministeriums veröffentlicht haben, zur Vernichtung von Krankheitserregern und die entsprechenden Akten in den Biolaboren von Poltawa (!) und Charkiw. Also wird uns die Atombombe treffen, damit wir keine Krankheitserreger mehr entwickeln. Der Freund aus Dnipro lädt mich ein, mit ihm mitzufahren. Er hat jetzt sogar genug Benzin, um mir Richtung Poltawa entgegen zu kommen. Ich zögerte kurz, stimmte beinahe zu. Vielleicht wäre es wirklich gut, eine Weile im Westen der Ukraine zu arbeiten? Dort habe ich schließlich sehr gute Freunde, noch von der Maidan-Revolution. Aber heute war so ein stiller Tag, die Sonne schien, es war nur ein Mal Luftalarm. Ich würde mich bis zum letzten Atemzug schämen, verließe ich jetzt die Stadt und die Russen würden Poltawa nie erreichen. Wenn es mein Schicksal ist, hier zu sterben, dann soll es eben so sein. Dann war es wenigstens für einen guten Zweck. Heute konnte ich sogar echte nützliche Arbeit leisten und bei der Organisation eines Transportes von Medikamenten als Deutschland helfen. Menschen in Bayern haben gespendet. Die "Notapotheke der Welt, action medior" übernimmt den Transport. Wahnsinn, jetzt hierher kommen zu wollen! Ich habe mir heute etwas Gutes gegönnt, eine einstündige Rückenmassage. Sehr kompetente Masseurin. Die Rückenschmerzen vom vielen Sitzen haben schon nachgelassen. Bald kommt der Frühling, dann ist der Krieg hoffentlich vorbei, die Russen werden kapituliert haben oder geflohen sein, und ich werde wieder Fahrrad fahren können. Schön an der Worskla entlang, wie im vorigen Jahr mit den Freunden vom Deutschen Sprachclub. Wegen der realistischen Chance, unter einem Atompilz zu verglühen, bittet ein guter Freund auf Facebook alle um Verzeihung: "Freunde, bitte vergebt mir, wen auch immer ich mit Wort oder Tat, wissentlich oder unwissentlich beleidigt habe. Sorry für die harten Worte, für die gedankenlosen Taten." Dabei ist der Mann ein Engel und wahrscheinlich derjenige, der in Poltawa am effektivsten für die Gesellschaft arbeitete, als Stadtführer und Historiker, als Dozent an der Kunsthochschule und als Filmregisseur, und noch in Dutzenden anderen Rollen. Zu seiner Bitte um Verzeihung zeigt er ein Foto, einen blauen Himmel mit einer schmalen Wolke, die aber auch der Kondensstreifen eines Flugzeugs sein könnte. Oder der Schweif einer Bombe, die uns auslöscht, nein, verbrennen wird. "Das Allrussische Zentrum für das Studium der öffentlichen Meinung (VTsIOM) präsentiert Daten aus einer Umfrage über die Wahrnehmung der Russen in Bezug auf Russlands militärische Sonderoperation in der Ukraine. 71 Prozent der Russen unterstützen die Entscheidung, eine spezielle russische Militäroperation in der Ukraine durchzuführen. Die Mehrheit der Russen vertraut der russischen Armee (84 Prozent). 70 Prozent der Bürger glauben, dass die Militäroperation für die russischen Truppen eher erfolgreich ist." Wie viel Zustimmung hatte Hitler im Dritten Reich?
- Vydavateľstvo: Hirzel S. Verlag
- Rok vydania: 2022
- Formát: Paperback
- Rozmer: 186 x 124 mm
- Jazyk: Nemecký jazyk
- ISBN: 9783777633107